Wie relativ ist der Kulturrelativismus? Wie universell ist der Universalismus?

Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung / Genitalbeschneidung ist nach wie vor ein höchst kontroverses Thema. Während in anderen sozialwissenschaftlichen Bereichen längst Konsens über ihre Ablehnung herrscht, weisen vor allem Ethnolog/-innen auf die spezifischen Kontexte und Begründungskonstellationen der Praxis hin. Die Auseinandersetzungen berühren die dahinter liegende Frage nach dem Verhältnis von Kulturrelativismus und Universalismus. Soll eine Praxis, die zwar nicht dem ‚eigenen’ Selbstverständnis entspricht, aber eine hohe Bedeutung in den ausführenden Gesellschaften inne hat, anerkannt und als sozialer Mechanismus (mit jeweils verschiedenen Funktionen) respektiert werden? Oder soll ein universalistischer Bezug auf Menschenrechte und auf Menschenwürde das Leiden von Mädchen und Frauen an der Praxis hervorheben und ihre Abschaffung begründen?

Beide Positionen behalten – in gewisser Hinsicht – (gegeneinander) Recht: Körperliche, psychische, sexuelle und psychosoziale Schädigungen durch den Eingriff sind real und breit dokumentiert. Ebenso real ist die zentrale gesellschaftliche Funktion, die die Praxis in den betreffenden Gesellschaften einnimmt. Beide Positionen sind aber auch ihrer Unzulänglichkeit zu überführen:

Janne Mende ist Autorin des kürzlich erschienen Buchs "Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung"

Die Anerkennung funktionaler Aspekte der Praxis ignoriert das Leiden, das der Eingriff verursacht. Der Versuch ihrer bedingungslosen und kontextlosen Abschaffung wird seinerseits repressiv, wenn er statisch, willkürlich und unter Missachtung gegebener Lebenswelten verfährt. Es führt daher in eine Sackgasse, möchte man nur auf dem Weg eines extremen Kulturrelativismus oder eines abstrakten Universalismus zu einer Lösung kommen. Um einen Umgang mit den sich diametral entgegenstehenden Aspekten gesellschaftlicher Funktionalität und individuellen Leidens zu finden, müssen die emanzipatorischen und die repressiven Aspekte beider Seiten, also sowohl von Kulturrelativismus als auch von Universalismus, in den Blick genommen werden. Dann lässt sich herausarbeiten, dass die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung/Genitalbeschneidung in (mindestens) sieben Funktionsmustern auftritt, die allesamt trotz ihrer Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Begründung, der Ausführung und der Relevanz ein gemeinsames Merkmal aufweisen: Sie dienen der Herstellung von Identität. Damit ist die Praxis für die Mädchen und Frauen alternativlos, sofern sie ein sozial akzeptiertes Leben führen, gesellschaftliche Anerkennung erlangen, Zugang zu Ressourcen erhalten oder überhaupt handlungsfähig sein wollen. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine bewusste Entscheidung für die Praxis (sofern eine solche vorliegt) kaum als freie, autonome Wahl bezeichnen. Nun ist diese Alternativlosigkeit allerdings auch kein statisches Verhältnis. Vorstellbar wären beispielsweise die Erweiterung von Identitäts- und Handlungsmöglichkeiten und der abgesicherte Zugang zu Ressourcen für Frauen. Dabei ist zweierlei unabdingbar: Sowohl der Einbezug von lokalen, spezifischen Konstellationen und Gegebenheiten als auch ein Maßstab für Kritik, ein Bewusstsein von Leiden, das es betroffenen Frauen ermöglicht, sich für ihre Rechte und Interessen einzusetzen. Ein vermittelter, kontextsensibler Universalismus, der an der Notwendigkeit der Verminderung von Leiden festhält, kann einen analytischen Zugang bieten, der diese Aspekte im Blick behält und der weitergehende Reflexion nicht nur ermöglicht, sondern zur Voraussetzung hat.

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