Bildkonjunkturen Teil II oder Eine Replik auf „das Leiden anderer betrachten“

Das fliegende Auge

Das Fliegende Auge (1983) Trailer

[Braddock and Murphy have watched Blue Thunder perform a selective firepower demonstration]
Icelan: Well, look at that, all the red dummies are blown to hell.
Frank Murphy: And a few white ones!
Fletcher: One civilian dead for every ten terrorists. That’s an acceptable ratio.
Frank Murphy
: [Leaning closer to Braddock] Unless you’re one of the civilians!

Die oben zitierte Passage stammt aus dem Film Blue Thunder, aus dem Jahre 1983 und ist den deutschen Lesern wohl eher unter dem Titel: “Das fliegende Auge” (ein für unser Anliegen bemerkenswert, konsistenter Titel) bekannt. Die Szene aus der dieses Zitat stammt, zeigt einerseits den High-Tech Kampfhubschrauber „Blue Thunder“ wie er fachgerecht einen Schießplatz mit menschlichen Attrappen, mit Hilfe seiner Bordkanone ohne viel Mühe, in tausend Teile dividiert. Dies geht scheinbar ohne große Rücksicht darüber von statten, ob es sich bei den verschieden, farbig markierten Attrappen um imaginäre Opfer oder Täter handelt. Die hochgerüstete Maschine mit ihrer gewaltigen Bewaffnung ist trotz feinster Boardelektronik  und Überwachungstechnologie inklusive eines eigens dafür ausgebildeten Piloten, scheinbar nicht dazu gemacht worden, den „feinen Unterschied“ erkennen zu sollen. Die Actionsequenz wird goutiert von einer Personengruppe, scheinbar hochrangiger Vertreter von Militär und Sicherheitsinstitutionen postiert auf einer Zuschauertribüne. Sie scheinen durchaus beeindruckt von der Durchschlagskraft dieser „Wunderwaffe“ und die finale Replik des Protagonisten Frank Murphy (Roy Scheider): „Unless you’re one of the civilians!“, kann eher als sarkastischer Kommentar der indirekten Bewunderung, denn als wirklich ernst gemeinte Kritik an dem Gesehenen gewertet werden. Der Film, ein Mix aus Science Fiction (wissenschaftlicher Fiktion) und Actionthriller mit Roy Scheider in der Hauptrolle, soll genutzt werden als Ausgangspunkt, für eine Replik auf den Beitrag von Friedemann Ebelt „das Leiden anderer betrachten: „Come on, let us shoot!“. Gleichzeitig soll hiermit auch die Fortführung der Kolumne „Bildkonjunkturen – Auf den Schnellstraßen des Ikonischen“ voran getrieben werden.

Diese Zusammenführung macht daher Sinn, da ich im ersten Teil meiner Kolumne bereits von einem „mit Bildern bewaffneten Konflikt zum Erhalt unserer systemischen Ordnung“ sprach und damit durchaus, nicht nur im übertragenen Sinne, die propagandistischen Bilder, innerhalb bewaffneter Konflikte meinte. Es soll im Folgenden hier nun versucht werden den rezeptiven Mittelweg zu suchen, den Friedemann in seinem Beitrag als das Dazwischen eines „‘normalen Kriegsalltags’ (NRB) oder eines ‘unmenschlichen Gewaltexzesses’ (JW)“ beschrieben hat.

Das kollektive Gedächtnis der Kultur

Mein Ansatz lautet demnach: Das Einsetzen eines verantwortungsbewussten Umgangs mit diesen Bildern / Aufnahmen / medialen Repräsentationen ist erst dann möglich, wenn man beachtet, dass sie bereits eine tief im „kollektiven Gedächtnis unserer Kultur“ (Belting 2001: S.66) verankertes Pendant haben. Dieses verankerte Pendant von Bildern, wird von Hans Belting als ein möglicher Ort der Bilder klassifiziert, dem sich jeder Mensch nicht entziehen kann, da sein eigener Körper im Wechselspiel mit diesem kollektiven Gedächtnis, seine eigenen örtlichen und räumlichen Erfahrungen und Erinnerungen umwandelt in Bilder. Ein jeder Mensch kompensiert damit „die Flucht der Zeit und den Verlust des Raumes, den wir in unseren Körpern erleiden.“ (Belting 2001: S.65.)

Die Annahme die sich im Rekurs auf diese Argumentation, beim Sichten des Videos ergab, war das wir in unserem „kollektiven Gedächtnis“ bereits über ein mannigfaltiges Repertoire an ähnlichen Bildern verfügen. Dieses Repertoire ist dafür verantwortlich, uns den Umgang mit diesem Video, doch auf einer Seite erheblich zu erleichtern, und letztlich auf einer moralischen oder gewissenhaften Umgangsebene jedoch, extrem zu erschweren. Denn einerseits und dies ist doch beachtlich, versteht der geneigte Betrachter sehr schnell was scheinbar in diesem Dokument aus Bewegtbildern passiert. Die Assoziationen um die es hier letztlich geht, sind nämlich alle bereits scheinbar mehr oder weniger in uns verankert: Krieg, Tötung aus dem sicheren Hinterhalt der Aviationsperspektive, Luftaufnahmen der Überwachung, Explosionen und die Relation von Schuss und Einschlag ballistischer Projektile trotz gehemmter Geräuschkulisse etc.…

Kann das Gesehene noch authentisch sein?

Andererseits fragen sich bestimmt nicht wenige Betrachter ob es wirklich richtig ist, sich diesen Bildern auszusetzen, solange es sich  (wie es die Philosophie von Wikileaks, dem Distributor dieses Videos, vorschreibt) um authentisches Material handelt. Material also, in dem reale Menschen in einem realen Akt der Ungerechtigkeit ums Leben kamen. Doch die Frage die sich daraus ableitet ist doch ob wir, ganz ähnlich der enthobenen Perspektive der Piloten, überhaupt noch in der Lage sein können, diese Bilder als etwas wirklich Authentisches zu klassifizieren? Folgen wir Beltings Argumentation weiter, so lässt sich doch feststellen dass wir bei allen verinnerlichten und in zweiter Instanz erinnerten Bildern stets zum Regisseur unserer eigenen Bilderwelt werden und ganz automatisch zwischen Fakt und Fiktion eine muntere Montage betreiben, die der räumlichen Wirklichkeit in keinem Fall entsprechen kann. Der Körper bewegt sich zwar stets in einem eigenen Chronotopos, die Erinnerungen und demnach auch die erinnerten Bilder jedoch introspektiv ohne diese Konstanten auskommen müssen (wenn man von der Annahme absieht, dass ein sich erinnernder Mensch niemals ortsungebunden seine Erinnerungsphasen vollführen kann).

Die Trennung von Imagination und Fiktion und schließlich die Lossagung der selbst gemachten Erfahrung

Weiter mit Belting argumentiert, kommt aber noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu der auch die Kernthese dieser Kolumne werden soll: Der Mensch hat in seinem Umgang mit den Bildern eine Trennung vollzogen, zwischen der Imagination und der Fiktion. Diese Trennung wird katalytisch befeuert durch die neuen Medien und ihren „Bildern von einer virtuellen Welt“ (Belting 2001: S.81). In dieser Welt gibt der menschliche Körper sich der Illusion hin, nur noch als Schnittstelle aufzutreten um die entkörperlichten Reize in Form von digitalen Bildern und Informationen zu verarbeiten. Ein wichtiger Punkt des menschlichen Seins scheint hier übersprungen und sich immer weiter fortwährend zu marginalisieren. Gemeint ist die Tatsache, dass ein Körper überhaupt noch dazu befähigt wird, Erfahrungen und Erlebnisse selbst tätigen zu können. Eine aktive körperliche Präsenz in der Raumzeit wird nach und nach ersetzt, durch eine avatarische Präsenz in virtuellen Räumen. Es geht dabei natürlich nicht darum eine dystopische Welt heraufzubeschwören, die tatsächlich ist wie die Welt in den Romanen der Neuromancer-Trilogie oder eben deren filmischer Entsprechung der Matrix-Trilogie. Es geht vielmehr darum diese Entwicklung transparent zu machen, die von der ausgiebigen Nutzung des Fernsehers über den Kinobesuch hinüberreicht, in die sich immer weiter auffächernden virtualisierten Erfahrungsumgebungen die, die neuen Medien bereithalten.

Eine Ikonografie und Bildgeschichte der anonymen Tötung aus der Luft

Zurück zum Beispiel des in Friedemann Ebelts Beitrag verhandelten Videos von der Tötung der vermeintlich Unschuldigen Personen durch den Kampfhubschrauber der US-Streitkräfte. Wie mein Eingangs präsentiertes Zitat zeigt, haben wir in unserem „kollektiven kulturellen Gedächtnis“ bereits mindestens ein Beispiel für den ungestümen Einsatz von Kampfhubschraubern auf einer fiktionalen Ebene. Sowohl eine Ausarbeitung der Ikonografie und der Bildgeschichte der anonymen Tötung aus der Luft und im speziellen, der totbringende Einsatz durch High-Tech Kampfhubschrauber alleine im Nordamerikanischen Kino, würde zahllose weitere Beispiele hier zu Tage fördern (Airwolf, Rambo, Platoon, Der Krieg des Charly Wilson etc.). Eine Erfassung von Videoformaten mit vergleichbarem Inhalt aus den verschiedenen Bereichen des World Wide Web, würde ebenso eine schwer quantifizierbare Aufgabe (eine einmalige Eingabe des Begriffs „Kampfhubschrauber“ ergab bei der Google-Videosuche bereits über 200 Resultate).

Das Privileg der von der Realität enthobenen Bilderkreisläufe

Die Frage die sich daraus ergibt ist: wieviele Menschen könnten sich hier einfinden, die von all diesen Dingen aus ihrer eigenen persönlichen Erfahrung heraus berichten könnten? Und damit möchte ich keineswegs den Umstand verharmlosen, dass viele Menschen auf dieser Welt täglich ihr Leben lassen in bewaffneten Konflikten und Kriegen. Doch wie Friedemann bereits erkannte, finden diese Umstände und deren Bilder davon zu aller erst in einer Umgebung statt, die sich eben nicht an dem Ort abspielen, in denen wir sie konsumieren und betrachten. Wir rezipieren diese Bilder die für die meisten Betrachter (außer den direkt Betroffenen und deren Verwandten, Angehörigen, Freunden, Kollegen und Familien) aus einer Perspektive in der diese Bilder lediglich Bilder „von einer virtuellen Welt sind“ an der wir keinen realen Bezug und Anteil mehr zu haben scheinen. Und hierin liegt das bereits im ersten Teil dieser Kolumne bereits angeführte Privileg von den enthobenen Bilderkreisläufen der westlichen Welt. Wir tragen unsere Konflikte, Kriege, Tötungen fort in eine Welt die weit genug entfernt zu sein scheint, dass wir sie als lediglich virtuell wahrnehmen können. Diese Front wird verteidigt bis zur letzten Patrone und letzten Cruise-Missile. Es bleibt ein Wink des Schicksals, wenn nicht sogar der schrecklichen Ironie, dass unter den Opfern dieser Szenerie wohl auch Journalisten waren. Manifestierte Repräsentanten der „alten (Bild)Weltordnung die noch in der unwirklich gewordenen Wirklichkeit nach den wahren Abbildern des „dort Draußen“ fahnden. Sie machten hierbei die schmerzliche Erfahrung, ganz genau wie alle anderen Beteiligten und Opfer des realen Krieges und der Zerstörung, dass die Welt ein tatsächlich gefährlicher Ort sein kann, in dem ein bloßes Betrachten vom „Leiden der Anderen“ reine Fiktion ist und ein gewaltiger Akt der arroganten Imagination sein muss, der pervertierter nicht sein kann. Die Frage scheint auf diese Weise einhellig beantwortet zu sein, ob wir nach derzeitigem Stand wirklich in der willentlichen Position sind, emanzipatorisch tätig zu werden, alle „Anderen“ in die Kreisläufe der westlichen Bildkonjunkturen aufzunehmen.

Im nächsten Teil der Kolumne stelle ich mich der Frage ob und wie die westlichen Bildkonjunkturen in der Lage sind, die anderen, die primitiven, die fremden Bilder am Ort ihres Entstehens zu verändern, zu manipulieren, zu verdrängen oder gar zu beseitigen.

Verwendete Literatur

Belting, Hans: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft / Hans Belting. – München: Fink, 2001.

  1. Nach dem Beitrag frage ich mich, welche Bedeutung es für den Umgang mit Bildern vom Leid Anderer hat, wenn Menschen bereits eine bildliche Erfahrungsbiografie von etwas haben, das sie unvermittelt nicht erlebt haben. Es stimmt, wie erstaunlich präzise dieses Video verstanden wird, von Menschen, die Waffen und deren Wirkungen nur aus audio-visuellen Medien kennen. Fast scheint es, dass historisches Wissen über Krieg hinter einem medial vermitteltem Pseudo-Alltagswissen von Krieg zurückbleibt.
    Wir, die entfernten Betrachter von Kriegsbildern haben virtuelle Bilderfahrungen, auf die wir eine bestimmte Form der subjektiven Kriegserfahrung stützen. Vielleicht kommt daher sowohl die Arroganz, mit der wir über Schuld im Krieg entscheiden, als auch die Gleichgültigkeit mit der diese Bilder durch die Gesellschaft gereicht werden. Vielleicht ist es ein fataler Pawlowscher Reflex: wir sehen aus sicherer Entfernung das Leiden der Anderen, reagieren darauf nicht und kommen damit gut davon. Nicht einmal ein bitteres Gefühl im Magen bleibt beim Betrachten von Bildern des Kriegs durch unsere mediale Konditionierung zurück.
    Aber: kein Bild bleibt folgenlos. Entweder es konditioniert uns weiter oder aber es löst einen Reflexionsprozess aus. Es gibt intelligente FilmemacherInnen, die Krieg reflektieren, ohne die bereits kollektiv aufgenommenen Bilder zu wiederholen und damit unter Umständen unfreiwillig einem Immunisierungsprozess gegen Kriegsbilder voranzutreiben. Der Innere Krieg (D 2009) ist ein sehr beeindruckender Anti-Kriegs-Dokumentarfilm, der die Folgen von Krieg in Afghanistan und dem Irak beobachtet, ohne Kampfhandlungen zu zeigen und damit einen sehr sensiblen Punkt trifft. Sehr sehenswert. FE

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